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Einordnung der Volkswirtschaftslehre - Methode

 
Achtung Erforderliche Vorkenntnisse für diesen Text: keine

Die Volkswirtschaftslehre erklärt Entscheidungen. Daher ist sie den Sozialwissenschaften zuzuordnen.

Die Sozialwissenschaften - verwechseln Sie den Begriff nicht mit Soziologie - beschäftigen sich mit dem Zusammenleben von Menschen. Die Volkswirtschaftslehre tut dies in einer bestimmten Art und Weise. Sie unterstellt den Menschen, nicht immer, aber regelmäßig, sie träfen vernunftbetonte Entscheidungen im eigenen Interesse. Menschen, die sich so verhalten, werden "homines oeconomici" genannt, im Singular Linkhomo oeconomicus .

Diese Methode grenzt die Volkswirtschaftslehre von anderen Sozialwissenschaften deutlich ab. Soziologen oder Psychologen wählen andere Ansätze. Sie sehen den Menschen viel weniger selbstbestimmt. In jüngerer Zeit kommt es allerdings zu einer Annäherung zwischen den Disziplinen.

Die Volkswirtschaftslehre nutzt in großem Umfang Erkenntnisse und Methoden aus anderen Wissenschaften. Zahlreiche ihrer Modelle haben zumindest formal viel gemeinsam mit der Mechanik, einem Teilgebiet der Physik. Die Volkswirtschaftslehre nutzt ebenfalls intensiv Mathematik und Statistik.

In den letzten Jahren gewinnt die Neurologie, die an der Schnittstelle zwischen Medizin, Psychologie und Informatik angesiedelt ist, Einfluss auf die Forschung in der Volkswirtschaftslehre, da die Neurowissenschaften ebenfalls der Frage nachgehen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Die Forschung an der Schnittstelle zwischen den Disziplinen heißt Neuroökonomie (neuroeconomics).

Das Gleichgewichtskonzept

Die Entscheidungen, die Menschen treffen, bleiben nicht ohne Auswirkung auf andere Menschen, die ihrerseits Entscheidungen treffen. Mitunter führt dies dazu, dass Entscheidungen nach einer Überprüfung unter Umständen geändert werden müssen.

Ein einfaches Beispiel aus dem täglichen Leben liefern die Warteschlangen an den Kassen in Supermärkten. Abgesehen von einigen Ausnahmeerscheinungen wollen die Kunden nach ihrem Einkauf möglichst schnell bezahlen. Sowie mehr als eine Kasse geöffnet ist, müssen sie eine Entscheidung treffen: "Wo soll ich mich anstellen?"

Freilich wäre es interessant, sich um jene Abweichler von der Norm zu kümmern, die an der Kasse Zeit ohne Ende zu haben scheinen. Die Volkswirtschaftslehre ist jedoch nicht auf der Suche nach Erklärungen für Ausnahmefälle, sondern für den Regelfall.

Aus eigener Erfahrung wissen wir, zu welchem Ergebnis die Summe der individuellen Entscheidungen an den Kassen führt. An allen Kassen dauert es etwa gleich lang, bis man an die Reihe kommt. Beobachteten wir nämlich umgekehrt, dass es an einer bestimmten Kasse besonders lange dauert, weil vielleicht gerade ein Kunde bemerkt, dass er sein Portemonnaie zu Hause vergessen hat, dann werden Wartende diese Schlange verlassen und sich in derjenigen anstellen, für die sie die geringste Wartezeit vermuten.

Solange die Kunden in ihrer Schlange bleiben, ihre Entscheidung also nicht revidieren, sprechen Ökonomen von einem Gleichgewicht. Allgemein lässt sich sagen, ein Gleichgewicht liegt vor, wenn die Entscheidungen, die die Akteure getroffen haben, so zusammenwirken, dass kein Akteur seine Entscheidung ändern möchte.

Wenn ein Gleichgewicht von außen gestört wird, spricht man von einem "exogenen Schock". Wenn aufgrund langer Warteschlangen an den Kassen eine Verkäuferin ankündigt, gleich noch eine weitere Kasse zu öffnen, ändern schlagartig einige der Wartenden ihre Entscheidung. Und es lässt sich auch prognostizieren, welche: In erster Linie diejenigen, die in den Schlangen weit hinten stehen, sowie jene, die einen kurzen Weg zur neu geöffneten Kasse haben, sodass sie gute Chancen auf die Pole-Position oder zumindest einen der vorderen Plätze haben. Es sind die Kunden, die die geringsten LinkOpportunitätskosten haben. Ruckzuck wird sich ein neues Gleichgewicht einstellen, das wir an etwa gleichen Wartezeiten für die jeweils letzte Position in den verschiedenen Schlangen erkennen.

Viele Systeme - vor allem LinkMärkte - haben nach herrschender Meinung unter den Volkswirten eine Tendenz zum Gleichgewicht. Sie regulieren sich von selbst, ohne dass es einer ordnenden Hand bedarf.

Aus dem Gesagten lässt sich eine Definition von Volkswirtschaftslehre zusammenfassen:

Volkswirtschaftslehre befasst sich mit Entscheidungen, die Menschen vernunftbetont und im eigenen Interesse treffen, und damit, wie diese Entscheidungen zusammenwirken.

Eine weitere Möglichkeit, Volkswirtschaftslehre zu definieren: LinkKnappheit.

Unter Beschuss

Sowohl diese Definition als auch der Gleichgewichtsgedanke bereiten dem ein oder anderen Probleme. Wer kennt nicht zahlreiche Gegenbeispiele für Systeme, die nicht zum Gleichgewicht tendieren, sondern "crashen", und für Menschen, die sich keineswegs rational verhalten, sondern Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen oder einem Herdentrieb folgen?

Ultimatum-Spiel
Abb. 1: Flussdiagramm des Ultimatum-Spiels

Wer diese kritische Position gegenüber dem traditionellen Ansatz in der Volkswirtschaftslehre teilt, bekommt in jüngerer Zeit starke Unterstützung aus der Profession selbst. Kaum etwas ist derzeit populärer, als Zweifel an dem Leitgedanken zu untersuchen, dass Menschen nur an ihr eigenes Wohl denken und, quasi wie durch Supercomputer gesteuert, vernünftig entscheiden. Selbst die noch grundlegendere Fragestellung, ob man überhaupt einen freien Willen haben kann, wird untersucht. Die Grundannahme der Ökonomen, dass sich die Akteure auf Märkten "ökonomisch" (= wirtschaftlich = rational = vernunftbetont) verhalten, ist unter Beschuss geraten.

Besondere Popularität hat das so genannte Ultimatum-Spiel gewonnen. Es ist ein Experiment, das wieder und wieder in unterschiedlichsten Variationen durchgeführt worden ist. Seine einfachste Version gibt zwei Probanden - meist Studierenden, die wir Verteiler und Empfänger nennen wollen - die folgende Situation vor: Verteiler erhält 10 Ein-Euro-Stücke vom Spielleiter. Die einzige Gegenleistung, die er zu erbringen hat, ist die Entscheidung, wie viele dieser Münzen er selbst behalten und wie viele er dem Empfänger abgeben möchte.

Daneben gelten folgende Regeln:

  • Empfänger kann das Angebot von Verteiler annehmen oder ablehnen. Nimmt Empfänger das Angebot an, so kann er die Münzen, die Verteiler ihm ausgehändigt hat, behalten. Die restlichen Münzen, die Verteiler nicht Empfänger gegeben hat, darf Verteiler behalten und das Experiment ist beendet.
  • Lehnt Empfänger das Angebot von Verteiler ab, muss Verteiler die zehn Münzen an den Spielleiter zurückgeben und beide gehen leer aus.

Verteiler kennt diese Regeln. Offensichtlich ergibt sich nun für ihn das Problem zu entscheiden, wie viele Münzen er Empfänger abgeben soll.

Dieses Experiment kann man nicht allzu oft wiederholen, denn jedes Mal, wenn Empfänger das Angebot von Verteiler annimmt, ist der Spielleiter um 10 Euro ärmer. Mit einem Budget von 1.000 Euro könnte man aber wenigstens 100 Runden spielen - und jedes Mal, wenn Empfänger das Angebot ablehnt, noch eine Runde mehr. Experimente in der Volkswirtschaftslehre sind in der Regel recht teuer, was zweifelsfrei den Grund liefert, dass Volkswirte meist mit Modellen arbeiten, die aus Gedanken bestehen. Oft reichen ihnen hierfür Bleistift und Papier.

Das Ergebnis des Experiments ist klar vorherbestimmt, wenn die Grundannahme "vernunftbetonter Entscheidungen im eigenen Interesse" zutrifft. Verteiler wird Empfänger genau eine Euromünze überlassen und die restlichen neun selbst behalten. Erhält Empfänger nämlich von Verteiler einen Euro, so wird Empfänger das Angebot annehmen. Denn wenn er es ablehnen würde, ginge er leer aus. Und ein Euro ist fraglos besser als kein Euro.

Tatsächlich zahlen die Probanden, die im Experiment die Verteiler-Rolle einnehmen, aber einen deutlich höheren Betrag aus - oft sogar die Hälfte. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass sich die Menschen nicht vernünftig verhalten, sondern einem Bauchgefühl folgen. Oder man könnte schließen, dass das Problem von den Probanden nicht durchschaut wird. Oder, dass sich die Menschen nicht vom Eigennutz leiten lassen, sondern Motive wie Fairness und Gerechtigkeit eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielen. Auf jeden Fall widerspricht das Ergebnis der Grundannahme rational handelnder Akteure.

Wer sich in die Situation von Verteiler versetzt, wird sich vermutlich nicht für einen Euro für Empfänger entscheiden. Aber dafür kann es auch ganz vernünftige Gründe geben. Für Empfänger ist es nämlich nicht besonders teuer, einen Euro von Verteiler abzulehnen. Ist Empfänger überhaupt bereit, für einen so geringen Betrag darüber ernsthaft nachzudenken, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen? Das weiß Verteiler natürlich. Und so ist es wenig verwunderlich, dass er dafür sorgt, dass es für Empfänger etwas teurer wird, das Angebot abzulehnen.

Zum Nachdenken:

Welches Ergebnis würden wir erwarten, wenn das Experiment anstelle mit zehn Ein-Euro-Münzen mit zehn 100-Euro-Scheinen durchgeführt werden würde? Dann lohnte es sich für beide, ganz ernsthaft über die Entscheidung nachzudenken. Würde Empfänger einen 100-Euro-Schein ablehnen? Wie ändern sich die LinkOpportunitätskosten, das Angebot abzulehnen, mit dem Betrag, der pro Spiel zum Einsatz kommt?

Homo oeconomicus - gestorben 2008?

"Das Jahr 2008 hat gute Chancen, als das Jahr in die Wirtschaftsgeschichte einzugehen, in dem der homo oeconomicus, der berechnende und berechenbare kalte Rechenautomat, den die Ökonomen in ihren Modellen als Mensch annehmen, endgültig beerdigt wurde", schreibt H. Beck am 23.3.09 in der Externer LinkFAZ

Soll man eine Theorien, die ganz wesentlich auf dem homo-oeconomicus-Gedanken aufbaut, dann überhaupt noch lernen? Wäre es nicht vernünftiger, gleich mit den neuen Ansätzen zu beginnen?

Ich denke, da kann man ganz beruhigt sein. Totgesagte leben länger. Und den homo oeconomicus schmeißt so schnell nichts aus der Bahn. Kritik an ihm ist en vogue. Aber Moden kommen und gehen. So hieß es vor gut zwanzig Jahren, die sogenannte Spieltheorie würde die VWL revolutionieren. Sie hat zwar deutlichen Einfluss gewonnen und findet mittlerweile in den meisten Lehrbüchern Erwähnung, aber grundlegende Änderungen hat nicht gegeben. Noch deutlicher ist das Auf und Ab und von Theorien im Bereich der Externer LinkMakroökonomie zu beobachten. Die Marx'sche und vor allem Externer LinkKeynes'sche Theorie, die beide nicht auf dem homo-oeconomicus-Gedanken aufbauen, vor wenigen Jahren noch totgesagt, erleben durch die weltweite Rezession 2009 eine ungeahnte Renaissance.

Allzu unkritisch sollte man die Hypothese, dass sich Menschen im eigenen Interesse rational verhalten, sicher nicht sehen. Eine ernste Gefahr, dass sich die Volkswirtschaftslehre von diesem überzeugenden Leitgedanken verabschieden könnte, besteht auf absehbare Zeit allerdings nicht.